Johann Gottfried Seume
„Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.“
„Ich nahm mein Monatsgeld, verkaufte einige Bücher, die etwas Werth hatten, und nach Abzahlung meiner kleinen Schulden, die ich nothwendig haben mußte, blieben mir ungefähr neun Thaler. Mit diesen dachte ich schon nach Paris zu kommen und mich umzusehen, was da für mich zu thun sey.“
1781 erreicht die Glaubenskrise des jungen Johann Gottfried Seume den Kulminationspunkt. Er bricht das Theologiestudium ab. Der Geist will sich befreien, der Horizont sich dehnen. Die Reise nach Paris sollte ein Übriges tun. Weit kommt er nicht. Bei Eisenach wird er zum ersten Mal fürs Militär „rekrutiert“, wie freiwillig, wissen wir nicht. Der Landgraf von Hessen-Kassel macht exzellente Geschäfte mit der Verpachtung von Landeskindern und aufgegriffenen Reisenden an fremde Herrscher. Seume wird als Soldat an England vermietet, das in Nordamerika abtrünnige Kolonien disziplinieren will. Kaum zurück in Bremen, desertiert er, wird aber kurz später wieder eingefangen, diesmal von den Preußen. Für seine Fluchtversuche steckt man ihn in den Kerker. 1787 schließlich gewährt man ihm Urlaub, den er für die Rückkehr nach Leipzig nutzt. Ab 1789 studiert Seume Jura, Philosophie, Philologie und Geschichte und macht eine ansehnliche akademische Karriere. Er tritt in den russischen Militärdienst ein, gerät beim Warschauer Aufstand 1794 in polnische Gefangenschaft, kommt schließlich nach der dritten polnischen Teilung 1795 wieder nach Leipzig, verweigert die Rückkehr nach Russland und wird aus der Armee ausgeschlossen.
Grimma oder das Leben als Druckfehler
Sucht Seume ein etwas weniger aufreibendes Leben, als er 1797 ein Mann des Buches wird? Er geht nach Grimma und arbeitet dort für seinen Freund, den Verleger Georg Joachim Göschen, als Lektor und Korrektor. Doch schon bald geht ihm die Arbeit aufs Gemüt. Hochmögende Schreiber beschweren sich über ihn, wie er es wagen könne, ihre heiligen Worte zu berühren. Irgendwann lässt Seume die Fehler eben stehen (kommt das jemandem bekannt vor …?). Besonders der einst verehrte Klopstock treibt es besonders arg mit seinen Klagen über den Korrektor.
„Da sitze ich in einem alten Polnischen Mantel, friere an den Fingern und skandiere Klopstocks zwanzigstes Buch der Meßiade, weiß der Himmel zum wievielsten Mahl“, schreibt Seume an einen Freund. „Wenn ich so fort korrigiere fürchte ich nur, mein ganzes Leben wird ein Druckfehler werden; darum werde ich wohl bald das ganze Korrektorwesen radicitus korrigieren müßen.“
Seume zieht es wieder in die Ferne, und er schmiedet einen abenteuerlichen Plan. Er wird zu Fuß nach Sizilien reisen und zu Fuß auch wieder zurückkehren.
Mitten im Winter, am 6. Dezember 1801, bricht er auf. Auf der ersten Etappe der Reise begleitet ihn sein Freund, der Maler Veit Hanns Schnorr von Carolsfeld, den aber schon in Wien der Mut verlässt. Seume geht allein weiter, überquert im Januar 1802 die Alpen und kommt schließlich nach Triest. Dort nimmt er Quartier in ebendem Gasthof, in dem 1768 der Archäologe und Kunsthistoriker Johann Joachim Winckelmann aus Motiven ermordet worden war, die bis heute Gegenstand heftiger Spekulationen sind.
Die nahezu schwärmerische Antikensehnsucht Winckelmanns und seiner Bewunderer und Epigonen liegt Seume fern. Edle Einfalt, stille Größe sind seine Sache nicht. Nicht für Museen und Ruinen interessiert er sich, sondern für Menschen, und er verrät uns einen Grund, sich sein Italien zu erwandern.
„Wer geht, sieht im Durchschnitt anthropologisch und kosmisch mehr, als wer fährt. Ich bin der Meinung, daß alles besser gehen würde, wenn man mehr ginge. So wie man im Wagen sitzt, hat man sich sogleich einige Grade von der ursprünglichen Humanität entfernt. Man kann niemand mehr fest und rein ins Angesicht sehen.“
In Italien sieht er den Menschen ins Angesicht. Er erkundet ihr alltägliches Leben und analysiert mit scharfem Blick die politischen Verhältnisse. Rom, den Sehnsuchtsort der antikenbeflissenen großen Geister seiner Zeit, hätte er am liebsten links liegengelassen. Schnell verlässt er die „Kloake der Menschheit“ und macht sich auf den Weg nach Neapel. Bis Sizilien ist es nicht mehr weit.
Die Reiseroute des „Spaziergangs“ 1801/1802
Grimma, Dresden, Prag, Wien, Graz, Marburg, Lubljana, Triest, Venedig, Bologna, Ancona, Rom, Neapel, Palermo, Syrakus.
Der Rückweg führt Seume in die Schweiz, von wo aus er eine Kutsche nach Paris nimmt. Er hat mehr als 6000 Kilometer zurückgelegt, das meiste davon zu Fuß.
Karte und Zeichnungen: Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft
Sizilien – Staunen und fluchen
Mit dem Postschiff verlässt Seume den „Zauberplatz“ Neapel und landet in Palermo. Er ist fasziniert von der Schönheit des Landes und abgestoßen von den von Klerus und Adel behherschten politischen Verhältnissen, die zahllose Menschen in Fron und Armut zwingen.
„Ich blickte fluchend um mich her über den reichen Boden, und hätte in diesem Augenblicke alle sizilischen Barone und Äbte mit den Ministern an ihrer Spitze ohne Barmherzigkeit vor die Kartätsche stellen können.“
Uralte feudale Verhältnisse, über Jahrhunderte aufrecht erhalten von den immer selben üblichen Verdächtigen, Verhältnisse, die Spuren hinterlassen und ohne die vieles von dem, was Land und Leute im Laufe der Zeiten heimsuchte, gar nicht erst entstanden wäre.
Seume durchstreift Sizilien auf Mauleseltriften, erklimmt den Kraterrand des Ätna, wandert die Nordküste entlang, freut sich in Cefalù über die ersten Rosen, bewundert die unterirdischen Getreidespeicher von Agrigent und staunt über die „ungeheure Fläche“ des ehemaligen Syrakus. In Palermo kauft er das „schönste und beste Brot seines Lebens“.
Der „Spaziergang“. Das juste milieu schäumt
Im September 1802 ist Seume wieder in Leipzig. Im Frühjahr 1803 erscheint sein Reisebericht. Er verkauft sich überraschend gut. Juste milieu und Bildungsbürger schäumen. „Unerträglich“, „arrogant“, „gemein“ schilt zum Beispiel Caroline von Herder, die Frau des Dichters, Seumes Werk. Sie nennt ihn „eitel“ und hält ihm vor, er habe sich in „niedrigen Wirtshäusern“ herumgetrieben und sich dort Kenntnisse über Land und Leute angeeignet.
Seume verweigert den antikeschwelgenden Bürgern die Selbstvergewisserung nach der Art einer kunstvollen italienischen Reise Goetheschen Zuschnitts. Seume beschreibt eine Wirklichkeit, in der die „Besitzer“ von Kunst, Kultur, Geist und Wahrheit sich niemals blicken lassen. Genau so enthalten sie sich in edler Einfalt und stiller Größe auch des Blicks auf die Missstände feudaler Verhältnisse, auf Ungleichheit und unverdiente Priviliegien.
Vielleicht hat die Tatsache, dass Seume als Kind Schweine hüten musste, ihn gelehrt, dass auch für kluge Köpfe da noch etwas anderes ist und sein sollte als der eigene intellektuelle Kirchturmhorizont. Als erster deutscher Schriftsteller nennt er sich „Proletarier“.
Es ist ein Handwerker, dem am Schluss des „Spaziergangs“ Seumes Anerkennung gilt.
„Zum Lobe meines Schuhmachers, des mannhaften alten Heerdegen in Leipzig, muss ich Dir noch sagen, dass ich in den nämlichen Stiefeln ausgegangen und zurückgekommen bin, ohne neue Schuhe ansetzen zu lassen, und dass diese noch das Ansehen haben, in baulichem Wesen noch eine solche Wanderung mitzumachen.“
Eine Wanderung unternimmt Seume noch. Sie führt in nach Norden und nach Osten, Skandinavien und Russland sind seine Ziele. Wieder legt er weite Strecken zu Fuß zurück.
1808 erkrankt er und sucht schließlich Linderung in Teplice, einem böhmischen Heilbad. Es ist zu spät. Am 13. Juni 1810 stirbt Johann Gottfried Seume, gerade einmal 47 Jahre alt, ein Mann, der sich den üblichen Kategorien entzieht und der uns ein Werk hinterlässt, das noch heute in weiten Teilen angemessener Verbreitung und Würdigung harrt.
„Welch ein Geist, welch ein Herz, welch ein Charakter, ist mit diesem seltnen Mann aus der Welt verschwunden!“, schreibt der hochbetagte Wieland. „… die Menschheit hat an ihm eine ihrer größten und leider! unerkannten Zierden verloren! Wie viel hätte er ihr sein können, wenn sie seinen Werth gekannt hätte, oder (richtiger zu reden) wenn nicht gerade das, worin sein höchster Werth bestand, ihn den Machthabern und sogenannten Großen, zu ihren Zwecken unbrauchbar gemacht hätte!“
Böse Menschen haben keine Lieder
Seume ist kein Freund der Obrigkeit und der „Großen“, ihren Zwecken nicht dienlich. Er kritisiert Ungleichheit, unverdiente Priviligien und den allfälligen Mangel an Freiheit. Kein Land, das er durchreist, vor allem nicht sein eigenes, ist sicher vor seiner freimütigen, bisweilen beißenden Kritik. Wie kaum anders zu erwarten, werden etliche seiner Werke zensiert. Insbesondere die „Apokryphen“, eine Sammlung von Aphorismen und Glossen zur Geschichte der Jahre 1806 und 1807, werden für ein Erscheinen nicht freigegeben. Sie können erst 1811 postum gedruckt werden, und auch das nur versteckt und stark verstümmelt in der dritten Auflage des „Spaziergangs“.
Als politischer Schriftsteller wird Seume erst langsam wiederentdeckt. Als Dichter ist er Vielen unbekannt, und kaum jemand weiß, dass auch zwei berühmte Verszeilen – die wie kaum etwas zu Italien passen – von demselben Mann stammen, der mit seinen schonungslosen Analysen der feudalistisch-absolutistischen Strukturen den Zorn der Zensoren erregte und der von kulturbeflissenen Bildungsbürgern für seinen „Spaziergang“ beleidigt wurde. Wollen wir hoffen, dass diese Zeilen den alten und den neuen Zensoren in den Ohren klingeln.
„Wo man singt, da lass’ dich ruhig nieder,
böse Menschen haben keine Lieder.“
Diese zwei Zeilen sind die populäre Abwandlung einer Strophe des Gedichts „Die Gesänge“ von 1804.
„Wo man singet, lass dich ruhig nieder,
Ohne Furcht, was man im Lande glaubt;
Wo man singet, wird kein Mensch beraubt;
Bösewichter haben keine Lieder.“
Werke von Johann Gottfried Seume (kleine Auswahl)
Spaziergang nach Syrakus. Leipzig 1803
Gedichte. Leipzig 1801
Mein Leben. Leipzig 1813
Apokryphen. 1811. Textkritische Neuausgabe: Lumpeter & Lasel, Eutin 2013
Die Internationale Johann-Gottfried-Seume-Gesellschaft „Arethusa“ e.V. in Grimma bewahrt das Andenken eines unterschätzten Dichters und Denkers mit Vorträgen, Tagungen, Spaziergängen und weiteren kurzweiligen Veranstaltungen.
Seit 2001 verleiht sie in Grimma im Zweijahresrhythmus den Johann-Gottfried-Seume-Literaturpreis für literarische Arbeiten mit gesellschafts- und kulturkritischem Ansatz, dem Geiste Seume folgend.